Kommentar
Johannes Uhlig
Dr. Johannes Uhlig, Senior Lecturer am ISBW, Sportwissenschafter, Pädagoge, Dozent in der Fußballtrainer*innenausbildung, Fußballtrainer mit UEFA-Pro-Diplom
Die 17. Fußball-EM der Männer 2024 in Deutschland ist voll im Gang: spannende Spiele, volle Stadien und riesige Begeisterung. Aktuell wird die Vorrunde in den sechs Gruppen gespielt. Nach den drei Spielen der Gruppen E und F am heutigen Samstag (22. Juni) haben alle 24 Teams je zwei Spiele absolviert und mit den restlichen Spielen von Sonntag bis Mittwoch (23. bis 26. Juni) wird die Vorrunde abgeschlossen. Nach einer zweitätigen Pause startet dann am Samstag (29. Juni) das Achtelfinale mit dem Spiel „Sieger Gruppe A“ (aktuell Deutschland) gegen „Zweiter Gruppe C“ (zur Zeit sind das ex aequo Dänemark und Slowenien).
Was fällt bis dato besonders auf? Gibt es neue Erkenntnisse bzw. Trends?
Mein kompaktes Zwischenresümee in acht Punkten:
Erstens: Euphorie der Fans. Es ist bekannt, dass Großereignisse wie Fußball-WMs und -EMs ein global großes Zuschauerinteresse nach sich ziehen und ein Millionenpublikum vor Ort, den TV-Schirmen und den Computern begeistern. Der in Deutschland beobachtete kollektive Patriotismus und positive Fanatismus der Fans, zusätzlich optisch präsentiert durch eine uniforme Kleidungspracht, scheint unübertroffen zu sein. Wir wissen aus sozialpsychologischen Studien (u. a. Epting et al. 2011; Leitner & Richlan, 2021), dass diese positive Unterstützung, quasi der*die berühmte zwölfte Mann*Frau ist, die Entscheidungen der Schiedsrichter beeinflussen, die Leistungen der Spieler verbessern und die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen kann. Wir werden sehen, ob das auch auf das deutsche Heimteam zutrifft.
Zweitens: Neue Spielregel. Die Einführung der neuen Spielregel, die besagt, dass nur die beiden Kapitäne oder deren Vertreter, falls der Kapitän ein Tormann ist, mit dem Schiedsrichter kommunizieren dürfen, hat sich als sinnvoll erwiesen. Bis dato konnten keine Rudelbildungen um den Unparteiischen beobachtet werden.
Drittens: Fluides Spiel. Die Teams von Deutschland, Italien und Dänemark zeigten in ihren ersten Spielen eine Tendenz zum temporären relationistischen Spiel, das in Brasilien von Fernando Diniz (Fluminense und Nationalteam) initiiert wurde. Im Gegensatz zum positionellen Spiel, bei dem das Besetzen von Spielzonen mit klarer Struktur und einstudierten Abläufen im Mittelpunkt steht, geht es hier um ein fluides, selbstorganisiertes Spiel. Alles dreht sich um das Spielgerät, um den Ball. In jeder Spielsituation wählen die Spieler ihre Position flexibel und adaptiv, je nach aktuellem Spielkontext und in Abhängigkeit vom Ball aus. Somit sind divergent taktische Kompetenzen in Form von Kreativität gefragt.
Viertens: Spanien in neuem „Fußballgewand“. Die spanische Fußballnationalmannschaft, La Furia Roja, zeigt sich in einer neuen strategisch-taktischen Ausrichtung. War noch vor kurzer Zeit das Kurzpassspiel (Tiki-Taka) prägendes mannschaftstaktisches Spielelement, so bestechen die Spanier unter Trainer De la Fuente mit einem vertikal ausgerichteten Offensivspiel. Speziell gegen Italien glänzten die beiden Flügelspieler Williams und Yamal durch taktische Disziplin, enorme Antrittsschnelligkeit und stetige Dribbelduelle, die ihre Gegenspieler vor große Probleme stellten. Im Mittelfeld agieren mit Cerebro Rodri, Linksfuß Fabián Ruiz und Kreativgeist Pedri drei unterschiedliche und herausragende Spieler und in der Abwehr spielt der, nicht erst seit dem Champions-League-Titel mit Real Madrid in Hochform befindliche Carvajal. Der Beweis ist noch kein Gegentreffer in 180 Minuten und das gegen Weltklasseteams wie Kroatien und Italien. Übrigens Yamal ist der jüngste Spieler einer Fußball-EM mit 16 Jahren und 338 Tagen.
Fünftens Weitschusstreffer. Bei der letzten EM 2021 fielen 73.8 Prozent der Treffer in der sogenannten „Goldenen Zone“. Das ist der Fünfer- und verlängerte Fünfer-Raum bis zur Strafraumgrenze. Und aus dem Bereich außerhalb der 40m-Strafraum konnten 16.2 Prozent der Tore erzielt werden. Es deutet darauf hin, dass dieser Trend auch bei dieser EM fortgesetzt wird. Steht die Abwehrformation eng und kompakt, so sind Schüsse außerhalb der Box ein probates Mittel. So konnten bis dato schon einige herrliche Weitschusstreffer (Stanciu, Müldur, Güler, Provod, Shaqiri, Hjulmand) beobachtet werden.
Sechstens: Eigentore. Nach bis jetzt 21 absolvierten Spielen und insgesamt 54 Treffern (Stand: 22. Juni mittags) gab es schon fünf Eigentore. Das ist mit etwa 10 Prozent ein ungewöhnlich hoher Wert.
Siebentens: Österreich mit Offensivdrang. Das österreichische Nationalteam erwies sich im zweiten Gruppenspiel gegen Polen als kompaktes und offensiv ausgerichtetes Team, das von der ersten Minute an die Initiative des Spieles übernommen hat. Es ist statistisch erwiesen, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 65 Prozent (Untersuchungen aus der deutschen Bundesliga und der englischen Premier League) jenes Team, das den ersten Treffer erzielt, auch das Spiel gewinnt. Außerdem stachen mit Baumgartner und Sabitzer zwei Akteure heraus, die in vakanten Momenten spielentscheidende Akzente setzten, um Österreich auf die Siegerstraße zu bringen. So gelang Baumgartner der Treffer zum vorentscheidenden 2:1 und Sabitzers Vorarbeit zum Strafstoßtreffer zum Endstand von 3:1 – Balleroberung, Sprint zum gegnerischen Tor und Foul vom polnischen Torhüter – war allererste Güte.
Achtens: Die Spieler sind die Protagonisten. Grandiose Vereinstrainer prägen mit ihrer Spielphilosophie auch wesentlich das Gesicht der Nationalmannschaft. Pep Guardiola ist einer der Besten seiner Zunft. Als er Trainer des FC Barcelona war und viele seiner Spieler im Nationalteam standen, errang das spanische Nationalmannschaft Europa- und Weltmeistertitel (2008–2012). Danach trainierte er den FC Bayern München und die Deutschen wurden 2014 Fußball-Weltmeister. Aktuell stehen in der deutschen Startelf mit Rüdiger, Kroos (Real Madrid; Trainer Ancelotti), Andrich, Wirtz (Leverkusen; Trainer Alonso) und Musiala, Kimmich (Bayern München; Trainer: Tuchel) Spieler, die im täglichen Vereinstraining mit gleichgearteten spieltaktischen Konzepten konfrontiert werden. Julian Nagelsmann lässt diese Protagonisten zusammenspielen, verbindet sie mit kongenialen Mitspielern und stülpt jedem seine passende Spielrolle über. Die beiden ersten Spiele waren vielversprechend. Vielleicht endet diese „Heimreise“ ja erst am 14. Juli im Finale in Berlin. Wenn da nicht doch noch das österreichische Team wäre, das am Weg dorthin oder erst im Finale zum Stolperstein für die Deutschen werden könnte. Man wird doch noch träumen dürfen!