FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2023

Warum hatten es die Favoritinnen so schwer?

Gastbeitrag von Johannes Uhlig

 

FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 2023

Warum hatten es die Favoritinnen so schwer?

17. August 2023 Gastbeitrag von Johannes Uhlig

 

In seinem Gastkommentar anlässlich der laufenden FIFA Frauen-WM 2023 analysiert der Sportwissenschafter und Fußballtrainer Johannes Uhlig, warum die Favoritinnen bis auf Spanien und England bei dieser Weltmeisterschaft das Nachsehen hatten und skizziert aktuelle Trends im internationalen Frauenfußball.

Die mit Spannung erwartete 9. FIFA Frauen-WM 2023 in Australien und Neuseeland hat bis dato ihre Erwartungen erfüllt: hohe Besucher*innenzahlen, attraktive Spiele und unerwartetes Favoritensterben. So scheiterten mit Brasilien, Deutschland (zweifacher Weltmeister) und Kanada (Olympiasieger) drei Top-Nationen schon in der Gruppenphase und mit dem Team aus den USA der aktuelle und vierfache Weltmeister im Achtelfinale per Elfmeterschießen an Schweden. Den Skandinavierinnen kam hier die moderne Torlinientechnik zugute, die bewies, dass beim insgesamt vierzehnten Strafstoß von Hurtig der Ball vollständig, also zur Gänze die Torlinie überquerte. 

Fünf Parameter, die erfolgreiche Teams charakterisieren

Um den Status Quo und aktuelle Trends im internationalen Frauenfußball zu ermitteln, vergleichen Sportwissenschafter*innen die Ergebnisse der WM 2019, der Europameisterschaft 2022 und der aktuellen WM. Wie lässt sich der Leistungsstand aus koordinativ-technischer, strategisch-taktischer, physischer und mentaler Sicht (Stichwort: Elfmeterschießen, Agieren nach einem Rückstand) erklären?

Eine im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2019 in Frankreich von Alliance Kubayi (Tshwane University of Technology) und Paul Larkin (Victoria University Melbourne) durchgeführte und 2020 veröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, dass sich die damals erfolgreichen Teams besonders durch folgende fünf Parameter (Effektgrößen) charakterisieren ließen:

     

  1. Das Team hat mehr Ballbesitz
  2.  

  3. Es kommt öfter zum Torabschluss 
  4.  

  5. Die Spielerinnen der erfolgreichen Teams gewinnen mehr Kopfballduelle in der Offensive
  6.  

  7. Das Team kann mehr Bälle in der gegnerischen Hälfte gewinnen 
  8.  

  9. Es werden mehr Offensivstandards mit Torabschluss gezählt 
  10.  

Laut dieser Studie – die allerdings auch für eine undifferenzierte Variablenauswahl im Defensivbereich kritisiert wurde – stellten Konterangriffe keine effektive Angriffstaktik dar.

Konterangriff wird wichtiger

Nun ist es spannend, diese Beobachtungen auf die laufende WM anzuwenden. Aus meiner Sicht als Fußballtrainer und Sportwissenschafter, der sich intensiv mit Sportspielforschung beschäftigt, hat der schon angesprochene Konterangriff an Bedeutung für erfolgreiche Teams gewonnen. Als Pars pro Toto seien die exzellenten Kontertreffer der Australierin Caitlin Foord im Spiel gegen Dänemark und der Japanerinnen Hinata Miyazawa und Riko Ueki gegen Spanien erwähnt. 

Nimmt man nun exemplarisch die ersten beiden Leistungsindikatoren "Ballbesitz" und "Torschüsse" heraus und bezieht diese auf alle acht Spiele im Achtelfinale, so kann festgehalten werden, dass sechs siegreiche Teams einen höheren Ballbesitz hatten (Frankreich: Spitzenwert von 75 Prozent) und fünf erfolgreiche Teams auch mehr Torschüsse (Spanien: Höchstwert von zehn Torschüssen) verzeichneten. Ausnahmen bezüglich Ballbesitz bestätigen auch hier die Regel. 

Japan überzeugt mit Konterspiel gegen Spanien

Als besonderes Beispiel kann das Spiel Japan gegen Spanien herangezogen werden. Die Asiatinnen überrumpelten im Gruppenspiel der Gruppe C die gewohnt spielstarken Spanierinnen mit einer genialen Spielstrategie und einem meisterlich vorgetragenen Konterspiel. Sie überließen den Spanierinnen die meiste Zeit den Ball (78 Prozent), verteidigten selbst in einer dichten und unüberwindbaren 1-5-4-1-Festung und konterten blitzartig nach Ballgewinn. "Orientierungslosigkeit im Labyrinth", nannte die deutsche Sportreporterin Claudia Neumann treffend den Zustand der Südeuropäerinnen an diesem rabenschwarzen Tag. Pikanterie am Rande: Spanien hat sich "gefangen" und steht aktuell im Finale.

Sternstunden und tragische Momente der FIFA Frauen-WM 2023

     

  • Die schwedische Torfrau Zecira Musovič wehrte im Achtelfinalspiel gegen die USA elf (!) Schüsse ab, bewahrte ihr Team mit fantastischen Paraden vor einem Rückstand und war damit maßgeblich am Aufstieg ins Viertelfinale beteiligt. 
  •  

  • Die US-Amerikanerin Megan Rapinoe (38 Jahre), mit einem verschossenen Strafstoß im Achtelfinal-Elfmeterschießen gegen Schweden, und Marta (37 Jahre), die sechsfache brasilianische Weltfußballerin, mit dem Ausscheiden in der Gruppenphase, avancierten bei ihren jeweils letzten Weltmeisterschaften zu tragischen Figuren. (Übrigens: Mein damaliges Team SV Neulengbach spielte 2014 im Champions League-Viertelfinale gegen Tyresö FF mit Marta.) 
  •  

In welche Richtung enwickelt sich der internationale Frauenfußball?

Heutzutage arbeiten alle Teams mit professionellen Videosystemen und Analysetools, mit denen das eigene wie auch alle gegnerischen Teams bis ins kleinste Detail "seziert" werden, z.B.: Wie oft spielt Spanien über die Flügelzonen, wie praktiziert Japan ihre Konterangriffe, auf welche "Pressingauslöser" reagiert Schweden? Wie bewegt sich Alexandra Popp im Strafraum? In welche Richtungen gehen die Pässe von Alexia Putellas? Aus diesen Analysen werden sowohl Strategien für das eigene Team entwickelt (Stärke-Schwäche-Profil) als auch Gegenstrategien speziell auf das nächste zu bespielende Team "maßgeschneidert".

Aus sportwissenschaftlicher Sicht lassen sich aus dem Vergleich der jüngsten großen Fußballwettbewerbe mit der aktuellen Frauen-WM schon jetzt folgende Trends prognostizieren: Die Teams beherrschen unterschiedliche Spielsysteme und auch das "Switches" (Wechseln) zwischen den Systemen. Die Spielschnelligkeit hat sich insgesamt erhöht, und mehr Spielerinnen haben ein Schnelligkeitsniveau mit Spitzenwerten um die 30 km/h. Die schnellste Spielerein ist – laut Angaben von DAZN – derzeit die Isländerin Sveindís Jane Jónsdóttir mit gemessenen 31.7 km/h. Und wie bereits ausgeführt: Konterangriffe haben sich als probates Angriffsmittel erwiesen. Wir dürfen auf das Finale am Sonntag gespannt sein!

Am Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien wird im Bereich Fußball aktuell u.a. zu den Themen Taktik und Taktiktraining im Nachwuchsfußball, Status Quo, Entwicklungen und Trends im internationalen Frauenfußball, Techniktraining und Teamsport geforscht. 

Hier finden Sie alle Infos zum Studienangebot am Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport der Uni Wien.

Johannes Uhlig ist Senior Lecturer am Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien, Pädagoge, Sportwissenschafter und Fußballtrainer.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Sportspielforschung (u.a. Nichtlineare Pädagogik, Sportspielvermittlungskonzepte, Trainings- und Wettspielmethodik) sowie in der Lehre; aktuell schreibt er ein Buch zum Thema "Spielräume – Und Fußball ist doch ein Spiel!"
Mit Frauenfußball verbindet ihn insbesondere seine Tätigkeit als Trainer des U17-Frauennationalteams (2009 und 2010) und als Trainer des SV Neulengbach (1. Österreichische Frauenbundesliga; 2010 bis 2014).

Lesen sie mehr dazu

Copyright: iStock

Copyright: Andreas Stuchlik