Der vorgelegte Beitrag soll die Etablierung der modernen multi- und interdisziplinären Sportwissenschaft an der Universität Wien in einem Längsschnitt von 1848 bis zur Jahrtausendwende skizzieren. Der inhaltliche, organisatorische und wissenschaftliche Ausdifferenzierungsprozess wird dabei in seiner Verschneidung und Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen dargestellt. Auf die Biographien von Schlüsselpersonen wird, soweit es für das Verständnis des Prozessverlaufes notwendig ist, eingegangen. Weiters versuchen wir die Genese der Sportwissenschaft an der Universität Wien kursorisch in den Kontext nationaler und internationaler Entwicklungen zu stellen.
Die moderne Sportwissenschaft baut inhaltlich und institutionell auf der Turnlehrerausbildung des 19. Jahrhunderts auf. Diese wiederum ist nur vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die sich seit der Aufklärung und dem aufgeklärten Absolutismus allmählich vollzogen haben, zu verstehen. In Weiterentwicklung etwa des Rousseau`schen Erziehungsdenkens rückte dabei der Körper verstärkt ins Zentrum von Erziehungs-, Militär-, Gesundheits- und Hygienediskursen. Auf der institutionellen Ebene dokumentiert sich diese Entwicklung in der Errichtung der Universitätsturnanstalt (UTA) an der Universität Wien im Jahr 1848.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich „Turnen“ – im Sinne von Friedrich Ludwig Jahn – allmählich in den meisten Schulformen. Dies erzeugte einen erhöhten Bedarf an systematischer professioneller Ausbildung von Turnlehrern. 1871 wurde daher an der Universität Wien erstmals ein viersemestriger Turnlehrer-Bildungskurs eingerichtet, der bis zum Ersten Weltkrieg zwar in Inhalt und Umfang etwas adaptiert, aber im Wesentlichen wenig verändert, beibehalten wurde. Den Frauen waren diese Kurse offiziell erst ab 1913/14 zugänglich.
Nach dem Ersten Weltkrieg setzten Dr. Karl Gaulhofer und Dr. Margarte Streicher eine Reihe von teilweise radikalen Reformschritten zur Überwindung des, überwiegend auf Subordination angelegten, Deutschen Turnens und gründeten – unter der Bezeichnung „Natürliches Turnen“ – ein auch international durchaus beachtetes reformpädagogisches Konzept. 1926 gelang damit unter anderem die Gleichsetzung der akademischen Turnlehrerausbildung mit den übrigen Lehramtsfächern. Die wissenschaftlichen Standards für das sich im universitären Umfeld allmählich etablierende Fach reichten jedoch noch nicht für die Errichtung einer eigenen Professur.
Im März 1938 wurde die Turnlehrerausbildung nach den Vorgaben der Reichsdeutschen Hochschulsportordnung (1934) ausgerichtet und in ein Hochschulinstitut für Leibesübungen umgewandelt. Der verpflichtende Hochschulsport für HörerInnen aller Fakultäten wurde von diesem Institut aus organisiert und bis in den Frühling des Jahres 1945 rücksichtslos exekutiert. So wie der Umbruch 1938 einen harten Schnitt in der Personalstruktur und einen Elitenaustausch brachte, erfolgte 1945 ein personeller „Rückbruch“ in die Erste Republik.
Die eigentliche Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft erfolgte nach 1945 und dauert bis zum heutigen Tag an. Dieser Prozess wird vor dem Hintergrund geänderter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen dargestellt. Die Dynamik der Veränderung und Entwicklung zeigte sich besonders deutlich in den Jahren 1970 bis 2000, die durch eine breite Welle der Kommerzialisierung, Professionalisierung und Mediatisierung des Sports gekennzeichnet waren. In der Sportlandschaft der Zweiten Republik wurden die Verhältnisse des Jahres 1918 tatsächlich fast auf den Kopf gestellt. Zum Beispiel werden heute die letzten Reservate der einstigen Adelsvergnügungen wie Reiten, Jagen, Tennisspielen oder Segeln von fast allen Schichten und Gruppen der Bevölkerung betrieben. Sport avancierte zu einem der bedeutendsten sozialen und kulturellen Phänomene, und eine wissenschaftliche Durchdringung wurde immer wichtiger. Am Institut für Sportwissenschaft wurden vier Professuren eingerichtet. Mit der Errichtung des Universitätssportzentrums (USZ I 1974 und USZ II 1994) auf der Schmelz wurde der expansiven Entwicklung der neuen wissenschaftlichen Disziplin Sportwissenschaft Rechnung getragen.
Publikationen
Müllner R. & Meisinger A. (2017). Zur (schwierigen) Positionierung der Sportgeschichte zwischen Sport- und Geschichtswissenschaft. In B. Perz & I. Markova (Hrsg.), Festschrift: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte 1966-2016. (S.371-386) Wien: new academic press.
Müllner, R. & Weiß, O. (2015). Von der Turnlehrerausbildung zur Sportwissenschaft. In K. A. Fröschl, G. B. Müller, T. Olechowski, B. Schmidt-Lauber (Hrsg.), Reflexive Innensichten aus der Universität Wien - Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Band IV. (S.149-164) Göttingen: V&R unipress
Müllner, R. & Weiß, O. (2015). Von der Turnlehrerausbildung zur Sportwissenschaft an der Universität Wien. Spectrum der Sportwissenschaften, Sonderheft 2015, 26-41.